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Foto ca. 1967 (c) E. Stegentritt

Agnès Rouzier

 

Briefe an einen toten Dichter

 

 

 

Dies sind fiktive Antwort-Briefe an Rainer Maria Rilke von der französischen Schriftstellerin Agnès Rouzier (1936-1981). Es sind nicht nur Antworten, in der Auseinandersetzung mit Rilke entsteht ihre eigene Poetik und die Beschreibung ihrer Lebensphilosophie.
 

Die Briefe erschienen zuerst unter dem Titel 'Lettres à un écrivain mort' in der Schweizer Zeitschrift FUROR (1981), ergänzt durch 2 zusätzliche Briefe in dem posthum erschienenen Band "Le fait même d'écrire" (1985), 2016 neu verlegt unter dem Titel 'dire, encore' bei BrûlepourPoint in Paris.

 

Übersetzung aus dem Französischen: Erwin Stegentritt

 

ISBN 978-3-942701-33-4

2017, 2. Aufl. 2019, 82 S. 6,90 €

eBook: 978-3-942701-34-1

2,99 €

 

Rezension (in Französisch) von Siegfried Plümper-Hüttenbrink in Cahier Critique de Poésie:

 

"Restituées ici en allemand, elles résonnent de fort loin. On les dirait presque écrites d’une époque à tout jamais révolue, ce qui n’est pas sans leur conférer un cachet quasi muséal. À l’oreille d’un germaniste, elles laisseront sans doute résonner quelque chose de l’Innigkeit de la sphère intime et qui ne va pas sans l’Unheimlichkeit, cette inquiétante étrangeté qui fait tout vaciller, entre réalité et fiction. À commencer par l’étrangéité d’une voix qui, bien qu’intime, s’interroge comme en voix-off, et ce en compagnie d’un mort qui ne saurait lui répondre. Ainsi en va-t-il de la voix qu’E. Stegentritt a su conférer à A. Rouzier. Une voix qui, de se dédoubler, de devenir doppelgängerisch, s’adresse pour une seconde fois à R. M. Rilke, et ce dans sa langue."

 

Aus der Rezension von Niklas Bender in der FAZ vom 22.3.2018, S. 10:

 

"Die lyrische Verdichtung macht aus Rouziers Prosa eine kompakte Kost. (...) Rouzier nimmt zentrale Begriffe oder konkrete Elemente aus den Briefen [von Rilke] auf und spielt diverse Themen durch, etwa die Rolle des Schreibens in einem endlichen Leben oder die Herausforderungen, die Alltag und Schreibblockaden bieten."

 

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Diese Publikation wird ergänzt werden durch eine Edition mit Bildern von Till Neu: Sieben Bilder für Agnès Rouzier.

5. Brief

            Da liegt es meterweit nur Bruchstücke, eines neben dem andern. Akte in der Größe meiner Hand und größer ... aber nur Stücke, kaum einer ganz: oft nur ein Stück Arm, ein Stück Bein, wie sie so nebeneinander hergehen, und das Stück Leib, das ganz nahe dazu gehört. Einmal der Torso einer Figur mit dem Kopf einer anderen an sich angepreßt, mit dem Arm einer dritten ... als wäre ein unsäglicher Sturm, eine Zerstörung ohnegleichen über dieses Werk gegangen. Und doch, je näher man zusieht, desto tiefer fühlt man, daß alles das weniger ganz wäre, wenn die einzelnen Körper ganz wären. Jeder dieser Brocken ist von einer so eminenten ergreifenden Einheit, so allein möglich, so gar nicht der Ergänzung bedürftig, daß man vergißt, daß es nur Teile und oft Teile von verschiedenen Körpern sind, die da so leidenschaftlich aneinander hängen. Man fühlt plötzlich, daß es mehr Sache des Gelehrten ist, den Körper als Ganzes zu fassen - und vielmehr des Künstlers, aus den Teilen neue Verbindungen zu schaffen, neue, größere, gesetzmäßigere Einheiten... ewigere...

 

Brief an Clara Rilke (2. September 1902)

Mein lieber Rilke!

 

Durch deinen Brief hindurch erahnen wir einen ganzen, in Bewegung geratenen Raum.

Von diesen Figuren hast du einmal gesagt: „aus goldbraunem, ockergelb gebranntem Ton“.

Doch wir sehen überall nur Weiß.

Wie kann man, wie konntest du das Weiß so in seine Teile zerlegen.

 

Wir wollen nun in uns das Licht hersagen, geteilt, strahlend und zugleich unbesiegbar, undurchdringlich.

 

All das, was in dem Leuchten an Fließendem ist.

Das Licht: dein Strahlen, dein Ungestüm, hier gehört es zur Nacht. Zur Nacht: das Licht. Als würde sich der Blick zerschneiden. Oder ein Sprung nach vorn, voll Verlangen.

Mein Arm, mein eigener Arm, auch er, gehört nicht mehr allein zu meinem Körper, sondern er ist da, erstarrt, unbarmherzig, Zeichnung, immer noch Zeichnung, Zeichnung von Tausenden. Es war einmal... Das Genügsame. Die Abstufung. Höchste Steigerung. Frohlocken und Angst.

 

Hymne.

 

Es war einmal...

 

Lernen: Schweigen erzeugen. Schweigen erzeugen: Es gibt kein größeres Opfer.

 

Jedenfalls waren wir zahlreich gewesen. Eine Unendlichkeit an Zahlen. Lebhaft. Schweigsam.

 

Durch deinen Brief hindurch leuchtet unveränderbar das Durchsichtige.

Du, der andere.

 

Manchmal, vor langer Zeit, warst du gestorben. Manchmal, kaum ist es ein Jahrhundert her.

 

Jedenfalls waren wir zahlreich gewesen. Es verlangte uns zu schreien. Nicht zählen. Nicht sehen.

Die Zerstückelung wurde uns zur Folter. Inbegriff der Folter. Wie in Stücken gewaltsam behauene Materie: seltsam sorgfältige Geister.

 

Strahlende Geister.

 

Es verschlägt uns den Atem.

 

Es scheint uns, als hätten wir das Privileg verloren, Voyeure zu sein.

Manchmal reiten wir Fabeltiere. Ohne dass ein Faden unserer Empfindungen verloren ginge. Kraftlos und unvorsichtig zerstreuen wir dennoch unsere Körper.

 

Es verschlägt uns den Atem.

 

Sanft, ganz sanft näherten wir uns.

Wir kannten die Dichte, die Wanderung eines einzigen Schrittes.

Unser Körper schlug hin und her. Wir schüttelten leicht den Kopf.

 

Und der Gesang, unser Gesang; wir hielten ihn in unseren Händen. Oder auch, leichter noch, hielten ihn mit dem Zögern unserer Finger.

 

Der Blick.

Unser Blick.

Jedenfalls waren wir zahlreich gewesen.

 

Viel mehr als Sehen. Viel mehr als Lesen: es war eine Entführung, die ihren Faden spann.

 

„Da sind noch Tische, Hocker, Kommoden... ganz bedeckt mit kleinen Figürchen- aus goldbraunem, ockergelb gebranntem Ton.“

 

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